Die verordnete Verwahrlosung

Der Begriff „Verwahrlosung“ wurde früher auf Personen angewandt, die sich komplett gehen ließen und keine Struktur mehr in ihr Leben bringen konnten oder wollten. Doch was ist, wenn eine ganze Elite verwahrlost? Und wenn dabei die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen wird?

Ein Kommentar von Hermann Ploppa

Zurück in Deutschland. Vorher zwei Wochen Urlaub in Kroatien und Montenegro. Wunderschöne Ausblicke. Klar. Das ist Urlaubs-Disneyland. Jetzt können wir wieder heizen auf bayerischen Autobahnen.

Doch schnell ist das Vergnügen zu Ende. Die Autobahn A3 zwischen Nürnberg und Würzburg ist komplett gesperrt. Wir dürfen uns über siebzig Kilometer auf Bundesstraßen und geschlossene Ortschaften quälen. Mitten in der Nacht. Nun müssen wir auch noch tanken. Auf der Tankstelle bietet sich uns ein bizarres Sozial-Gemälde. Die Kassiererin dieser Tankstelle ist total aufgedonnert und ihr Verhalten erinnert an professionelle Damen. Ich muss übrigens ein Euro sechsundneunzig für den Liter Benzin berappen. In Kroatien habe ich für die selbe Flüssigkeit lediglich 1,58 Euro bezahlen müssen, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. In Ungarn kostet der Liter Superbenzin 95 lediglich 1,34 Euro. Der Preis wird nämlich in diesen kleinen machtlosen Ländern von der Regierung festgelegt. Und offensichtlich können die Ölkonzerne auch damit sehr gut leben. Doch die erheblich mächtigere deutsche Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf, die ökonomisch in keiner Weise zu begründenden Wucherpreise zu deckeln. Die Tankstelle hier in der fränkischen Provinz ist offensichtlich der Treffpunkt für junge Männer mit bayrischen Luxuskarossen mit bulgarischen Kennzeichen. Diese gut genährten Könige des roten Lichts scheinen sich hier zu einer improvisierten „Fachkonferenz“ zusammengefunden zu haben.

An einer weiteren deutschen Tankstelle haben parkende LKWs einfach die Zufahrtswege gesperrt. Während hunderttausende Güterwaggons auf Abstellgleisen vor sich hin rosten, finden die neu zugelassenen Sattelschlepper keinen Parkplatz mehr. Die aus allen Teilen Osteuropas rekrutierten LKW-Fahrer schlafen hier dem Sonntagabend entgegen. Dann dürfen sie endlich weiterfahren. Hunderttausende isolierte, mit Schoka Kola und Red Bull wach gehaltene Männer sausen in alle Himmelsrichtungen. Völlig einsam. Sehen Frau und Kinder nur gelegentlich.

Wir sind wieder in Deutschland. Wir lieben dieses Deutschland. Denn es ist trotz seines unberechenbaren Wetters unendlich schön mit seinen alten Städten und dieser abwechslungsreichen Landschaft. Aber was ist hier seit einigen Jahren los? Die Menschen sind genervt. Am Limit. Ausgebrannt und in der inneren Kündigung. Wer kann, wandert aus. Es ist wirklich seltsam. Nichts geht mehr.

Beruf: Stau-Bildner

Fangen wir mit dem Verkehr an. Man könnte versucht sein zu glauben, die Planer dieser Verkehrskatastrophe hätten sich in den Kopf gesetzt, die Nerven ihrer Landsleute nach allen Regeln der Kunst zu piesacken. Da werden andauernd neue Baustellen auf den Fernstraßen aufgemacht. Die Sperren sind schon lange da. Die entsprechenden Baumaschinen lassen allerdings Monate auf sich warten. Und wenn die Baumaschinen dann endlich da sind, passiert deswegen doch noch lange nichts. Im heiteren Beruferaten können wir den Beruf des „Stau-Bildners“ ausfindig machen. Es scheint in deutschen Amtsstuben viele solcher gut besoldeter Stau-Bildner zu geben. Und die Leistungen dieser ehrenwerten Amtsmänner können sich sehen lassen. Im Jahre 2020 gab es immerhin 513.500 Staus in Deutschland, mit einer Stau-Länge von stolzen 659.000 Kilometern. Wir verbrachten als Kollektiv 256.000 Stunden, also 29 Jahre in deutschen Staus! <1> Was hätten wir in dieser Zeit alles machen können. Vielleicht haben wir auch noch das Glück, an einer Performance der Klimakleber als Opfer teilnehmen zu dürfen, und dann das Flugzeug zu verpassen, und tausend Euro sind mal eben ersatzlos verbrannt? Diese Verkehrsblockaden sind eindeutig strafbare Handlungen und müssten von der Polizei umgehend beendet werden. Wie kann man wohl den dringend notwendigen Klima- und Umweltschutz perfekter zur Strecke bringen als mit diesen halbgaren Aktionen von unreifen Milchbärten? Durch Untätigkeit der Polizei wird hier obendrein dem Rechtsstaat ein dezenter Sargnagel verpasst.

Aber was wollen wir denn? Wir können doch Bahn fahren? Naja, ich bin Besitzer einer Bahncard 50 und fahre wann immer möglich mit der Bahn. Und ich kann aus Erfahrung sagen: Bahn fahren ist Russisch Roulette ohne tödlichen Ausgang. Ob ein Zug kommt, ob er pünktlich kommt, ob er sein Ziel erreicht: das ist vollkommen ergebnisoffen. Wenn man einen Flieger nicht verpassen will; wenn man tatsächlich noch am selben Tag zuhause ankommen will – besser ist es, einen Zug früher als planmäßig zu nehmen, um auch wirklich anzukommen. Das sind Verhältnisse wie sie für Länder in der so genannten Dritten Welt beschrieben werden. Doch die Deutsche Bahn braucht sich in dieser Kategorie nicht zu verstecken. Die Deutsche Bahn ist immerhin so ehrlich selber zu vermerken, dass weniger als zwei Drittel aller Fernzüge pünktlich sind <2>. Doch erst eine kleine parlamentarische Anfrage der Linkspartei konnte der Regierung das Geständnis aus dem Kreuz leiern, dass pro Jahr 40.000 Zugfahrten – meistens wegen Triebwagenschaden – komplett ausfallen, und dass es 80.000 Störungen im Bahnnetz gegeben hat <3>. Da stehen wir also mitten in der Nacht auf dem Bahngleis und hören mal eben so nebenbei, dass unser Zug einfach ausfällt. Kommen jetzt Mitarbeiter der Bahn zu uns und geleiten uns zum Schienenersatzverkehr, oder fahren uns auf Kosten der Bahn zum nächsten Hotel? Nichts da. Sieh zu wie Du klarkommst. Das ist Ver-Wahr-losung im eigentlichen Sinne des Wortes. Das ist einer Hochkultur unwürdig.

Das kranke Gesundheitswesen

Man kann eigentlich jeden Bereich unseres Lebens nehmen. In Deutschland ist alles dem Zufall überlassen. Nehmen wir die Gesundheit. Landärzte gibt es kaum noch. Es wird fast nichts getan, um Allgemeinärzte auf dem Land anzusiedeln. Auch der gute alte Arzt mit seiner Alleinpraxis stirbt aus. An seine Stelle tritt das schon im Kürzel kalt wie Hundeschnauze anmutende MVZ. „Herzlos unwillkommen, Niere 17!“ Die Götter in Weiß wollen nur unser Bestes – unser Geld nämlich. Bemerkenswerterweise lässt sich nicht ermitteln, wie lange im Durchschnitt ein Patient braucht, um bei einem Facharzt vorgelassen zu werden. Der Urologe hat erst in einem halben Jahr wieder einen Termin für Dich. Wehe, Du bist vollkommen alleinstehend. Der Facharzt residiert heutzutage womöglich etwa hundert Kilometer entfernt von Deinem Wohnort. Viele Behandlungen werden an das nächste Krankenhaus abgewimmelt. Doch die öffentlichen Krankenhäuser in Deiner Nähe werden gerade in die Insolvenz getrieben. Schuld ist die schon lange eingeführte Fallpauschale. Als Arzt darfst du für jeden Patienten nur begrenztes Geld ausgeben. Es geht nicht mehr darum, Kranken zu helfen. Wenn Du das Geld als Krankenhausleiter für einen besonders schwierigen Fall nicht aus dieser Pauschale bezahlen kannst, dann musst Du das woanders abknapsen. Als öffentliches Krankenhaus bist du gezwungen, jeden Fall zu behandeln. Also ist der finanzielle Engpass für öffentliche Krankenhäuser vorprogrammiert. Dass man überhaupt öffentliche Krankenhäuser mit ihrem grundgesetzlichen Versorgungsauftrag den Gesetzen des Marktes zum Fraß vorwirft, ist schon eine gigantische, planmäßige Verwahrlosung. Der Zweck ist klar: öffentliche, dem Volk gehörende Krankenhäuser sollen aus dem Weg geräumt werden zugunsten großer, von privaten Profit-Konzernen geführter Mega-Krankenhausmaschinen. In vielen Regionen Deutschlands ist es schon so weit: auch für ein gebrochenes Bein müssen Patienten verdammt viele Kilometer teuer im Krankenwagen zur nächsten Giga-Maschine gekarrt werden. Die Solidargemeinschaft der Einzahler in die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen das ja. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Das ist dann der nächste Patient auf dem Sterbebett: die gesetzlichen Krankenkassen. Die übernehmen immer weniger Leistungen und bauen trotzdem immer wieder Defizite. Allein in diesem Jahr sind es 17 Milliarden Euro! <4> Die gesetzlichen Krankenkassen können schon lange nicht mehr über ihr eigenes Geld bestimmen. Sie zahlen ihre Einnahmen in einen vom Bundesgesundheitsminister kontrollierten „Gesundheitsfonds“. Aus diesem Gesundheitsfonds hatte der damalige Minister Jens Spahn Geld für Masken und Impfstoffe ausgeworfen wie die Karnevalsprinzessin die Karamellbonbons. Die 17 Milliarden Euro Defizit für dieses Jahr werden vom Steuerzahler beglichen. Und weiter geht es mit den Leistungskürzungen. So mancher Chef einer gesetzlichen Krankenkasse sieht seine Aufgabe darin, den Weg zu bereiten für die Liquidierung öffentlicher Kassen. Der Chef der Innungskrankenkasse IKK, Ralf Hermes, bekannte gegenüber dem Handelsblatt: „Der Lage angemessen wäre es, die komplette zahnärztliche Versorgung aus dem Leistungskatalog zu streichen. Wer sich im Wesentlichen zweimal am Tag ordentlich die Zähne putzt, bekommt fast keine Probleme.“ Aha. So ein Tipp wie der Gauck-Pullover gegen Wucherpreise beim Heizöl. Und dann empfiehlt IKK-Chef Hermes noch, man solle sich doch privat versichern lassen. <5> Damit ist die Katze aus dem Sack. Und damit wissen wir auch, wohin die Reise geht. Die mutwillige Zerstörung der dem Volk gehörenden öffentlich-rechtlichen Krankenkassen steht auf der Agenda.

Bildungsgipfel? Das ist ja wohl der Gipfel!

Und wie sieht es im Land der Dichter und Denker mit der Bildung aus? Kurz gesagt: „besch….eiden!“ Seit Corona nehmen die Lesekompetenzen rapide ab, ebenso die Rechenkünste der jungen Schüler. Nachwachsende Männer haben zudem größere Schwierigkeiten, einen Schul- oder Studienabschluss zu erlangen als junge Frauen. Heinz-Peter Meidinger ist Bundesvorsitzender des deutschen Philologenverbandes und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er hat viele Schulen gesehen, und sein Befund ist wert, hier in Gänze vorgetragen zu werden:

„Wir haben teilweise dramatische Vorfälle an Deutschlands Schulen. Vor ein paar Monaten ist in Berlin eine Aula eingestürzt. Gott sei Dank waren keine Schüler darin. Wir haben Fälle, da hat sich der Schimmel mittlerweile so in Schulwände gefressen, dass gesundheitliche Schäden nicht nur befürchtet, sondern wahrscheinlich auch die Folge sein würden, wenn hier weiter unterrichtet wird. Wir haben teilweise energetisch unhaltbare Zustände. Kälteschleusen – Räume werden teilweise gar nicht mehr richtig warm. Wir haben Schulen, in die es hinein regnet. Für manche Schulen muss man sich schämen in Deutschland.“ <6>

Und das Portal n-tv weiß zu berichten: „Dreckige Schultoiletten, Dächer, durch die es reinregnet, Schimmel an den Fenstern: An vielen Schulen in Deutschland herrschen Zustände, die kein Arbeitnehmer tolerieren würde.“ <7>

Und das sind keine extremen Einzelfälle. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau schätzte für das Jahr 2022, dass in etwa 17 Prozent aller Gemeinden in Deutschland ein Sanierungsstau vorliegt und schätzt die erforderlichen Sanierungskosten auf etwa 45 Milliarden Euro <8>. Die Gemeinden müssen die Schulen zum größten Teil finanzieren. Und die Gemeinden haben sowieso kein Geld, weil sie mit der Gewerbesteuer die unattraktivste und unzuverlässigste Steuereinnahmequelle haben. Und auf die Gemeinden wird die immer heftigere Last der Sozialhilfe und die Versorgung von Einwanderern und Flüchtlingen aufgedonnert. Zudem fehlen etwa 50.000 Lehrer. Das führt zu einem Unterrichtsausfall von fünf Prozent <9>.

Sind wir als Bürger denn wenigstens geschützt durch eine ja immerhin sehr teure Polizei? Während ich in den Fällen von Gesundheit, Bildung und Verkehr noch relativ leicht Zahlen ermitteln konnte, stehe ich bei der Performance der deutschen Polizei ziemlich ratlos da. Mir liegen keine statistisch validen Zahlen vor, wie lange ein Bundesbürger im Schnitt warten muss, bis auf einen Notruf hin eine Polizeistreife am Ort erscheint. Ich will hier die Arbeit der regulären Streifenbeamten überhaupt nicht ins Zwielicht stellen. Die Arbeit ist hart und auch psychisch nur schwer zu verkraften. Aber als Steuerzahler habe ich ein Anrecht, auch in diesem Bereich Leistungsnachweise zu erhalten, genauso wie in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Verkehr. Was ich aus meinem Bekanntenkreis höre, ist nicht gerade schmeichelhaft für die Entschlossenheit der mit dem Gewaltmonopol ausgezeichneten Polizei, dem Bürger schnell und wirksam zu helfen. Aus meinen eigenen Erfahrungen und Gesprächen mit Polizeibeamten weiß ich, dass die Polizeistreifen bis auf ein nicht mehr zu tolerierendes Ausmaß in aller Stille ausgedünnt worden sind. Hier wird schon seit Jahren daran gearbeitet, die öffentliche Polizei zunehmend durch private, durchaus dubiose „Sicherheitsdienste“ auszutauschen. Auch hier habe ich den Eindruck, dass der öffentliche Bereich absichtsvoll verwahrlost wird, um Platz zu schaffen für eine privatisierte, neofeudale Ordnung nach dem Gusto der Globalkonzerne.

Dann gehen wir eben in den Wald, um uns zu erholen. Da schwillt mir aber auch gleich wieder der Haarkamm wenn ich sehe, wie der Wald vollkommen brutal von Baumschneidemaschinen, so genannten Harvestern, zerstört wird und die Wanderwege nur noch ein einziger Matsch sind. Für Holz wird im Moment viel Geld bezahlt auf dem Weltmarkt. Und das ist wichtiger als das grundgesetzlich verbriefte Recht der Bürger auf Erholung und auf eine grüne Lunge. <10>

Und warum wird nichts dagegen unternommen?

Eine ganze Gesellschaft wird hier immerhin vorsätzlich in den Ruin gefahren, um das Volksvermögen den privaten Konzerninteressen in den Rachen zu schmeißen. Es geschieht nichts. Denn zum Einen leben wir in einer so genannten „Verbände-Demokratie“. Seit der Machtergreifung der Nazis sind alle gesellschaftlichen Interessengruppen in Verbänden organisiert. Geändert hat sich seit dem Niedergang der Nazis daran nur der Name. Statt der Deutschen Arbeitsfront gibt es zum einen Unternehmerverbände, die eine große Macht ausüben über die einzelnen Unternehmer. Und auf der anderen Seite wurden die Gewerkschaften nach dem Vorbild der US-amerikanischen Kartell-gelenkten Gewerkschaften aufgebaut. Es ging darum, die Arbeiter und Angestellten daran zu hindern, im Kalten Krieg pazifistische Boykottmaßnahmen gegen die Aufrüstung zu organisieren. Heute geht es darum, die Arbeiter und Angestellten daran zu hindern, der galoppierenden Enteignung des Volksvermögens durch Konzerne und Kartelle Widerstand entgegenzusetzen. Deshalb werden die Mitarbeiter von privatisierten Kliniken von der Gewerkschaft darauf orientiert, für mehr Lohn zu kämpfen, anstatt das Übel bei der Wurzel anzupacken und die Privatisierung rückgängig zu machen. Wer energisch die Re-Kommunalisierung privater Krankenhäuser fordert, wird womöglich als „Querdenker“ diffamiert und isoliert.

Zum anderen werden die Menschen immer einsamer. In Großstädten lebt heute schon die Mehrheit in Single-Haushalten. Man orientiert sich nach den Medien und verlässt sich darauf, dass irgendwelche neuen Parteien es schon richten werden.

Nein! Das werden sei nicht. Wer an der Krippe sitzt, der frisst. So einfach ist das. Wir müssen uns schon an die eigene Nase fassen und vor Ort mit unseren nächsten Mitmenschen Widerstand organisieren. Jetzt ist unsere Fallhöhe noch so günstig, dass wir zusammen etwas erreichen können. Keine Parteien, keine Verbände werden die sich beschleunigende Verwahrlosung unserer Gesellschaft aufhalten können oder auch nur wollen.

Die beste Therapie besteht darin, Dir selber zu vertrauen und dann mit den Menschen Deiner Umgebung Netzwerke zu bilden.

Quellen und Anmerkungen

<1> https://www.bussgeldkatalog.org/verkehrsstatistik/

<2> https://www.deutschebahn.com/de/konzern/konzernprofil/zahlen_fakten/puenktlichkeitswerte-6878476

<3> https://www.stern.de/reise/deutsche-bahn–2022-fielen-mehr-als-40-000-zuege-ersatzlos-aus-33463390.html

<4> https://www.br.de/nachrichten/bayern/und-immer-noch-warten-auf-einen-arzttermin,TWPVYwR

<5> https://www.kma-online.de/aktuelles/wirtschaft/detail/kassen-defizit-entfacht-diskussion-um-leistungskuerzungen-49969

<6> https://www.kma-online.de/aktuelles/wirtschaft/detail/kassen-defizit-entfacht-diskussion-um-leistungskuerzungen-49969

<7> https://www.n-tv.de/politik/Der-Zustand-der-Schulen-ist-eine-Katastrophe-article23983594.html

<8> https://www.lehrer-news.de/blog-posts/marode-schulgebaeude-und-sanierungsstau-bleibt-das-so

<9> siehe Fußnote <7>

<10> https://apolut.net/tagesdosis-3-8-2019-der-christdemokratische-waldgipfel/

Der andere Elfte September- Putsch in Chile 1973

Ein Kommentar von Hermann Ploppa

Wenn wir die Zahlenkombination 9/11 hören, dann denken wir ganz automatisch an die einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001. Wir erinnern uns, wie dieser Vorfall unser aller Leben schockartig verändert hat. Und bei der Bewertung der Ereignisse hat sich die erste große Polarisierung herausgebildet. Seitdem ist es möglich, dass wir in einer pluralistischen Demokratie einander nicht mehr zuhören und mit Vertretern einer entgegengesetzten Meinung nicht mehr reden. Man kann sagen, dass mit jedem weiteren Jahr, das uns vom Elften September 2001 trennt, die Meinungen immer heftiger auseinanderdriften.

Aber das Ereignis aus dem Jahr 2001 ist nicht der einzige Elfte September, der die Welt in einer radikalen Art und Weise umgekrempelt hat. Am 11. September des Jahres 1973 wurde in dem lateinamerikanischen Land Chile der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende in seinem Amtssitz La Moneda zu Tode gebracht. Dieses Verbrechen erschütterte die Welt nachhaltig.

Ich befand mich an diesem sonnigen Tag im Pariser Jardin du Luxembourg, als aufgeregte Studenten durch den Park liefen und Flugblätter verteilten. Ein Massaker fand gerade in diesen Stunden in Chile statt. Am Abend versammelten sich die Studenten im großen Hörsaalgebäude der Sorbonne-Universität und gedachten mit einer Schweigeminute der Opfer des faschistischen Terrors.

Zu jener Zeit war der Sozialist Salvador Allende gerade einmal drei Jahre im Amt gewesen. In einer Zangengeburt hatten sich die zerstrittenen linken Parteien zu dem Wahlbündnis mit Namen Unidad Popular zusammengeschlossen. Bei der Wahl konnten sie allerdings nur etwas mehr als ein Drittel aller Wahlstimmen auf sich vereinigen. Doch auch die chilenischen Christdemokraten wählten Allende zum Nachfolger des Christdemokraten Eduardo Frei. Und sie unterstützten in der ersten Zeit auch die Politik des Sozialisten. Dessen Politik bestand im wesentlichen darin, den Reichtum des Landes gerechter als bisher zu verteilen. Zu diesem Zweck wurden die Kupferminen und viele andere Branchen verstaatlicht. Die einheimische Wirtschaft erhielt Schutz durch die Einschränkung von Importen. Bei so einer Umverteilung gibt es natürlich immer Leute, die von ihrem Reichtum etwas abgeben müssen. An diese Leute wandte sich der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA. Wie später in Kongress-Untersuchungen in Washington ermittelt, gab die Regierung der USA mindestens zehn Millionen Dollar für die Durchführung von Streiks, Boykott-Maßnahmen, Straßenblockaden und politische Morde in Chile aus <1>. Bereits vor der Amtseinführung von Salvador Allende wurde General René Schneider zunächst entführt und dann ermordet. Schneider hatte erklärt, dass das Militär trotz Sympathien für die USA gegenüber den demokratisch legitimierten Regierungen Chiles loyal zu bleiben habe. Nach diesem Mord war die so genannte „Schneider-Doktrin“ nicht mehr viel wert. Jeder Offizier wusste nun, was ihm blühen konnte, wenn er die Demokratie verteidigt. Doch zunächst gelingt es Allende, die Generäle sogar in seine Regierung einzubinden. Als allerdings so langsam die Lähmung der chilenischen Wirtschaft durch die CIA-Regime Change-Methoden immer mehr Wirkung zeigten, zogen sich die Militärs Stück für Stück immer weiter aus der Verantwortung heraus.

Bei den Wahlen Anfang 1973 konnte die Unidad Popular ihren Stimmenanteil trotz allem sogar um acht Prozent auf 44 Prozent steigern. Denn die unteren Schichten der Bevölkerung sahen unter Allende die Chance einer Besserung ihres Lebensbedingungen, und sie gingen zum ersten Mal in ihrem Leben zur Wahl. Doch die Christdemokraten standen jetzt in Opposition zu Allendes Reformpolitik. Sie verbündeten sich mit den Rechtsradikalen und stellten im Parlament mit 55 Prozent gemeinsam die Mehrheit. Diese Mehrheit brachte dann auch im Spätsommer 1973 ein Misstrauensvotum gegen Allende im Parlament ein. Die Generäle zogen sich nun endgültig aus der Regierung zurück. Die vier regierungstreuen Kommandanten der Teilstreitkräfte werden durch unsichere Kantonisten ausgetauscht. Oberbefehlshaber des Heeres wurde ein gewisser Augusto Pinochet. Pinochet erklärte Allende zunächst seine Loyalität.

Der Putsch

Am 11. September 1973 ist es dann soweit. Morgens um halb Sieben meutert die chilenische Marine. Um Acht verlesen Militärs die Putsch-Erklärung gegen Allende. Und siehe da: Augusto Pinochet outet sich als Diktator von Chile. Doch man zeigt sich noch großzügig: man werde Allende für seinen Abgang ins Ausland ein Flugzeug bereit stellen. Allende lehnt ab. Der Noch-Präsident von Chile schickt irgendwann seine Leibgarde, seine Mitarbeiter und seine Familie aus dem Präsidentenpalast La Moneda. Um elf Uhr hält er seine Abschiedsrede, die allerdings nur noch bei wenigen Radiostationen übertragen wird. Er sagt unter anderem:

„Mit Sicherheit ist dies die letzte Gelegenheit, mich an Sie zu wenden. Mir bleibt nichts anderes, als den Arbeitern zu sagen: Ich werde nicht aufgeben! In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen. Sie haben die Macht, sie können uns überwältigen, aber sie können die gesellschaftlichen Prozesse nicht durch Verbrechen und nicht durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte gehört uns und sie wird durch die Völker geschrieben. Arbeiter meiner Heimat: Ich möchte Ihnen für Ihre Treue danken. Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Arbeiter! Dies sind meine letzten Worte und ich bin sicher, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird, ich bin sicher, dass es wenigstens ein symbolisches Zeichen ist gegen den Betrug, die Feigheit und den Verrat.“ <2>

Noch nicht einmal eine Stunde später wird der Amtssitz des Präsidenten von der Luftwaffe bombardiert, ebenso alle Leitzentralen der Allende unterstützenden Organisationen, Gewerkschaften und Parteien. Nach offizieller Lesart habe sich Allende dann angesichts der nahenden Katastrophe selber das Leben genommen. Um zwei Uhr Mittags erstürmt das Militär die Moneda. Es folgt eine gigantische Liquidierung aller Sympathisanten der demokratischen Regierung. Fußballstadien und Veranstaltungshallen füllen sich mit verängstigten Opfern, zusammengepfercht wie Schlachtvieh. Leute werden aus der Herde herausgeholt, vor den anderen gefoltert, verstümmelt und getötet. Der berühmte Liedermacher Victor Jara wird erkannt. Ihm werden die Handgelenke gebrochen. Nun fordern ihn die höhnischen Folterknechte auf, er solle doch mal Gitarre spielen und dazu seine Lieder singen. Jara singt noch einmal und wird dann ermordet. Der Krieg gegen die eigene chilenische Bevölkerung geht bis 1976 weiter. Dann hat die Junta Chile fest in ihren blutverschmierten Krallen. An diesem verbrecherischen Akt gegen die Menschlichkeit sind als ausländische Unterstützer nicht nur die Geheimdienste und Stiftungen der USA beteiligt. Der ehemalige CDU-Generalsekretär und damalige Präsident der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, Bruno Heck, zeigt sich nach einer Inspektion der Verhältnisse in Chile begeistert:

„Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.“ <3>

Auch der damalige CSU-Vorsitzende Franz Strauß ließ es sich nicht nehmen, immer wieder seinen Freund Augusto Pinochet, jetzt Diktator von Chile, zu besuchen und dabei auch einen Abstecher in das Konzentrationslager Colonia Dignidad nicht auszulassen. Und die Freunde aus den Vereinigten Staaten von Amerika waren rein zufällig damit beschäftigt, die Kader des neuen chilenischen Geheimdienstes DINA in den USA auszubilden. Amnesty International geht davon aus, dass bis zu 30.000 Menschen in Chile von den Pinochet-Faschisten ermordet wurden.

Weshalb das Ganze?

Warum ließ man Allende nicht einfach gewähren?

Eine geopolitische Herausforderung war Allende gewiss nicht. Er war ja eher ein sozialdemokratischer Reformer und hätte auch ein Stück weit mit den USA kooperiert, wenn die darauf eingegangen wären. Die Gefahr, dass Chile in das Lager der Sowjetunion überwechseln würde, war denkbar gering. Die Sowjetunion hatte viel zu viele eigene Probleme und ihr Arm reichte keineswegs bis nach Südamerika. Südamerika war damals immer noch der verlängerte Vorgarten der USA. Und die USA waren immer noch in der Lage, jederzeit selber mit Strafexpeditionen gegen unwillige Regierungen vorzugehen. Zudem war die Linke schwach und gespalten.

Nein, Geopolitik spielte hier eher eine untergeordnete Rolle. Heute sind sich die meisten Beobachter darüber im Klaren, dass es bei dem Putsch vom 11. September 1973 eher um die Durchsetzung eines neuen radikal-kapitalistischen Gesellschaftsexperiments handelte. In Chile wurden nämlich nach der Einführung des Pinochet-Faschismus in der Duldungsstarre der unterworfenen Bevölkerung marktradikale Experimente durchgeführt <4>. Den immer stärker werdenden multinationalen Konzernen war es ein Dorn im Auge, dass die einfache Bevölkerung an Entscheidungsprozessen beteiligt werden sollte. Dass das Volk womöglich mehr vom erarbeiteten Bruttoinlandsprodukt abbekommen sollte. Sie investierten massiv in die neue Ideologie des Freien Marktes, fälschlich auch „Neoliberalismus“ genannt, wie sie Propagandisten wie Friedrich von Hayek oder Milton Friedman unermüdlich predigten. Hayek fand, dass der Staat sich aus allen wirtschaftlichen Entscheidungen heraushalten sollte. Der weise Markt würde schon alles von alleine richten. Wirtschaftskrisen entstünden nur dann, wenn der Staat sich in die Wirtschaft einmischte.

Hayek hatte im Jahre 1944 in seinem Buch „Die Straße zur Knechtschaft“ gefordert, dass seine Anhänger sich nach dem Schneeballprinzip innerhalb von vier Generationen zur absoluten Diskurshoheit in allen Gesellschaften dieser Welt emporarbeiten sollten <5>. Da aber viele Regierungen dieser Welt sich nicht dem Diktum der Sponsoren von Hayek und Consorten beugen wollten, mussten Militär, Stiftungen und Geheimdienste handgreiflich nachhelfen. So wurde das erste marktradikale Freilandexperiment im Jahre 1964 in Indonesien durchgeführt. Der dortige Präsident Achmed Sukarno wurde mit amerikanischer Hilfe durch den blutrünstigen General Haji Mohammed Suharto ausgetauscht. Mindestens eine halbe Million Gegner des Marktradikalismus sind bestialisch ermordet worden. Die Flüsse waren rot gefärbt in jenen Tagen, mit frei schwimmenden Gliedmaßen angefüllt.

Chile war dann das nächste Freilandexperiment des entfesselten Marktes. Wirtschaftsguru Milton Friedman von der Universität Chicago hatte bereits in den 1950er Jahren seine „Chicago-Boys“ ausgebildet. Es handelte sich um Nachwuchsökonomen aus allen möglichen lateinamerikanischen Ländern. Diese Kader gingen jetzt in Chile ans Werk. Alle Bereiche der Wirtschaft fielen der Privatisierung zum Opfer. Der gleichermaßen faschistische wie marktradikale Arbeitsminister José Pinera beseitigte das aus Deutschland bewährte Umlageverfahren. Die Leute mussten jetzt bei privaten Rentenversicherungen einzahlen, die mit dem Geld an der Börse spekulieren und deren Unternehmensziel nicht mehr der optimale Schutz der Versicherten war, sondern der optimale Spekulationsgewinn einiger Weniger. Folge: die Wirtschaft Chiles boomte – aber nicht für die Mehrheit der Chilenen. Die Mehrheit der Chilenen stürzte ins nackte Elend. Soweit, dass sich viele Chilenen von Hundefutter ernährten. Friedrich von Hayek war zweimal im Horror-Reich des Augusto Pinochet und er befand voller Genugtuung:

„Als langfristige Institutionen lehne ich Diktaturen mit allem Nachdruck ab. Aber eine Diktatur kann für eine Übergangszeit das erforderliche System sein“. <6>

In der Tat: Wirtschaftsliberalismus und Faschismus schließen sich keineswegs gegenseitig aus. Im Gegenteil: die Durchsetzung des Marktradikalismus ist ohne die harte Keule des Faschismus schlicht undurchführbar. Folglich wurde das Freilandexperiment der Hayeks und Friedmans nun auch auf Argentinien und Uruguay ausgedehnt. Nachdem man daraufhin experimentell herausgefunden hatte, dass der Patient zwar ganz schön geschwächt war, aber immer noch am Leben, wurde der Marktradikalismus auf die große Bühne gehoben: nämlich seit 1979 in Großbritannien durch Maggie Thatcher und in den USA durch Ronald Reagan. In Deutschland mussten die Marktradikalen noch bis zum Zusammenbruch der DDR warten <7>. Sie sogen sich am Volksvermögen der Ostdeutschen voll. So gestärkt, gingen diese Kleptokraten nun daran, das Volksvermögen aller Deutschen in Ost und in West abzusaugen <8>. Die Corona-Politik hat dieser Diebeskaste jetzt eine bislang ungeahnte Machtvollkommenheit beschert.

Wir sehen also: diese magische Neun/Elf hat unsere Welt radikal verändert. Die Neun/Elf von 2001 veränderte die Welt in sehr kurzer Zeit. Für alle spürbar. Die Folgen von Neun/Elf des Jahres 1973 war nicht sofort für alle wahrnehmbar. Der chilenische Putsch hat dafür aber über fünfzig Jahre weit tiefere Spuren hinterlassen als die einstürzenden Hochhäuser von New York. Doch wir sehen jetzt ganz klar: das Mehr-Generationen-Projekt des Marktradikalismus hat unsere Lebenswirklichkeit von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Quellen und Anmerkungen

<1> https://www.nytimes.com/1974/09/20/archives/cia-is-linked-to-strikes-in-chile-that-beset-allende-intelligence.html

<2> https://web.archive.org/web/20061109124913/http://www.ciudadseva.com/textos/otros/ultimodi.htm

<3> https://www.telepolis.de/features/Tod-eines-Moerders-3409226.html

<4> https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-terror-des-freien-marktes-100.html

<5>http://digamo.free.fr/roadto.pdf

<6> https://lobbypedia.de/wiki/Friedrich_August_von_Hayek

<7> Hermann Ploppa: Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke die Demokratie unterwandern. Frankfurt/Main 2014

<8> Otto Köhler: Die große Enteignung – Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte. Berlin 2011.